"... Ich betrachte Feigen mit gemischten Gefühlen. Sie fühlen sich unheimlich fleischig an, im wahrsten Sinn des Wortes. In Italien wird "il fico", die Feige, bisweilen in "la fica" verwandelt, ein Slangausdruck für Vulva. Sie gilt als die älteste Frucht der Wetl, vielleicht wegen des Feigenblatts, das Eva bekanntlich bei der Vertreibung aus dem Paradies trug. Und sie ist die seltsamste, denn die Feigenblüte befindet sich im Innern der Frucht. Wenn man sie öffnet, hat man ein Bild vom gesamten Lebenszyklus vor sich, vielschichtig, urtümlich und unendlich ausgeklügelt. Bestäubt wird sie von der sogenannten Feigenwespe, die nur drei Millimeter lang ist. Das Weibchen dringt in die Blüte ein, die sich im Innern der Feige entwickelt. Am Ziel angekommen, versenkt sie ihren Legebohrer, der wie eine gebogene Nadel aussieht, in den Fruchtknoten der weiblichen Blüte und legt ihre Eier ab. Falls sie den Fruchtknoten nicht mit dem Legestachel erreicht (manche Blüten haben lange Griffel), befruchtet sie die Feigenblüte mit den Pollen, die sie während ihrer Flüge gesammelt hat. Dem einen Partner in diesem symbiotischen System ist geholfen, so oder so: entweder entwickeln sich nach der Eiablage Larven oder die bestäubte Feigenblüte erzeugt Samen. Falls an der Reinkarnationstheorie etwas dran ist, möchte ich bitte nicht als Feigenwespe wiedergeboren werden. Findet das Weibchen nämlich kein passendes Nest für ihre Eier, stirbt es in aller Regel vor Erschöpfung im Innern der Feige. Anderenfalls brütet es in der Feige und alle männlichen Nachkommen werden ohne Flügel geboren. Sie haben nur eine einzige Funktion und das ist Sex, allerdings ein kurzes Vergnügen. Gleich nach dem Schlüpfen befruchten sie die Weibchen, dann helfen sie ihnen, einen Tunnel in die Freiheit zu graben. Sie selbst können den Lohn der Arbeit jedoch nicht genießen, denn anschließend sterben sie. Die Weibchen schwärmen aus und tragen dabei genug Sperma aus dem Begattungsakt mit sich herum, um alle ihre Eier zu befruchten. Ich weiß nicht, ob ich es appetitanregend finde, dass jede Feige, so köstlich sie auch schmecken mag, ein Miniaturfriedhof für flügellose, mönnliche Wespen ist. Vielleicht stammt das Sinnliche, das der fleischigen Frucht anhaftet, von einem Geschmacksstoff, in den sie sich nach ihrem kurzen, süßen Leben auflösen."
Aus "Das Paradies heißt Bramasole" von Frances Mayes