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Mein Wort Reich

"Nicht Worte sollen wir lesen, sondern den Menschen, den wir hinter den Worten fühlen." ( Samuel Butler)

 

 

Four

January 31, 2016 7028hits

Wenn ich etwas erlebt habe, dann erzähle ich es gern weiter. Weil es dann immer wieder lebendig wird und ich das Erlebte mit anderen Menschen teilen kann. Oder aber ich schreibe es auf. In diesem Fall geht es in erster Linie um das, was mein Mann seit ein paar Monaten erlebt. Denn bei all den Geschichten die er mir erzählt denke ich, das sollte er auch anderen erzählen. Jemand sollte sie aufschreiben, weil sie sonst verloren gehn. Dieser Jemand bin also nun ich. Ich schreibe hier all das auf, an das ich mich erinnere. Denn inzwischen sind es schon eine ganze Reihe von Geschichten - second hand short stories.

second hand short story 14

Osterferien. Schule und Kindergarten sind geschlossen. Es ist einfach nichts los. Doch der Helferkreis hat sich für diese Zeit eine unterhaltsame und lehrreiche Integrationsmaßnahme ausgedacht, zu der ausschließlich Flüchtlingsfamilien mit Kindern eingeladen sind. Hierfür öffnet die freundliche Chefin der Schul-Mensa an drei Tagen ihr Reich. Eltern, Kinder und Ehrenamtler wollen in dieser Zeit zusammen kochen und Spaß haben. Außerdem sollen die neuen Gemeindemitglieder Bekanntschaft mit einer gut funktionierenden Küche machen und an die damit verbundene, notwendige Sauberkeit und Hygiene herangeführt werden. 30 große und kleine Syrer, Iraker und Afghanen werden erwartet.

obstsalat

Auf der Speisenkarte stehen Obstsalat, Pizza und Apfelpfannkuchen. Die Zutaten hierfür hat mein Mann erbettelt und gleich am ersten Tag wird klar, dass die Beute reichlich ausgefallen ist und das Obst für alle drei Küchentage reicht. Mit Einweghandschuhen ausgestattet machen sich alle ans Werk. Männer und Frauen schnippeln um die Wette, es herrscht eine fröhliche Stimmung, deutsche, englische und arabische Worte fliegen hin und her. Die Kinder amüsieren sich und strahlen, als die riesige Schüssel mit dem Obstsalat auf den Tisch kommt, den sie zuvor gemeinsam gedeckt haben. Am nächsten Tag kommen noch mehr Gäste. Vielleicht hat sich herumgesprochen, wie fröhlich es am Vortag war. Oder aber es ist die Pizza, die lockt.

pizza

second hand short story 13

Unser junger syrischer Freund erzählt. Wir konzentrieren uns auf die deutschen Worte die er spricht oder lauschen seinem Handy, in das er immer wieder arabische Sätze tippt, die dann von seiner "Siri" mehr oder weniger gut ins Deutsche übersetzt werden. Fallen Worte wie Gefängnis und Folter, sehen wir uns entsetzt an.

Wir hatten ihn gefragt ob er Lust habe, heute mit uns gemeinsam im Garten zu arbeiten? "Ja, kein Problem!" Jede Art von Beschäftigung, die die Eintönigkeit seiner Tage unterbricht, ist willkommen. Danach sitzen wir auf der Terrasse bei Kuchen und Tee. Nach einer Weile ist der Wind so kalt, dass ich trotz Sonnenschein lieber ins Haus gehen möchte. Aber wir wollen seinen Redefluss nicht unterbrechen. Mein Mann raunt mir zu, "das hat er noch nie erzählt", also lassen wir ihn reden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe. Aber so hörte sich seine Geschichte an.

Er ist 26 Jahre alt und kommt aus einer Stadt in Syrien, deren Namen hier niemand kennt. Dort lebte er mit seiner Mama, seinem Baba und 15 Geschwistern! Er ist das jüngste der Kinder. Es gibt dort einen kleinen Garten, der auf allen vier Seiten von Häusern begrenzt ist und in diesen Häusern leben seine Familie, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Als im März 2011 der Bürgerkrieg ausbrach, verließ er Syrien und ging in den Libanon. Dort arbeitete er vier Jahre lang in einer Werkstatt, wo er Unfallautos reparierte und lackierte, in erster Linie von Rover und Mustang. Dieser Job erlaubte ihm, seine Familie finanziell zu unterstützen. Dann gab es eine Steuererhöhung und sein Arbeitgeber wollte ihn und andere syrische Kollegen nicht mehr beschäftigen. Einen anderen Job zu bekommen war aussichtlos und so wurde er abgeschoben. Nach Syrien konnte er nicht zurück, also machte er sich auf den Weg in die Türkei. Nachdem er dort eine Woche im Gefängnis verbrachte, dann aber frei kam, bestieg er eines der kleinen, mit einem Außenborder betriebenen Boote, das ihn nach Griechenland bringen sollte. Als der Motor unterwegs seinen Geist aufgab, musste er schwimmen. Drei Stunden lang, bis er völlig erschöpft eine der griechischen Inseln erreichte. Dort blieb er vier Wochen lang.

In Ungarn wollte man ihn nicht haben. Er wurde festgenommen und vorübergehend inhaftiert. Nach seiner Freilassung schaffte er es irgendwie bis nach Wien, 4 Wochen dauerte dieser Trip. Man setzte ihn dort kurzerhand in einen Zug, der ihn nach Kiel brachte. Dort wurden die ankommenden Flüchtlinge auf die dafür in Frage kommenden Erstaufnahmelager verteilt. Nach dem wochenlangen Aufnahmeprocedere landete er schließlich in unserem Nachbarort.

Er ist einer der syrischen Männer, die das Vorder- oder Hinterhaus bewohnen und die dort gemeinsam in Deutsch unterrichtet werden. Seit einiger Zeit spielt er im ortsansässigen Verein Fußball. Das findet er großartig, zumal er seit kurzem neue Fußballschuhe besitzt. Gelegenheit für Gespräche gibt es allerdings kaum. Außerdem reden alle so schnell und er will nicht dauernd darum bitten, das Gesagte zu wiederholen. Begeistert erzählt er uns davon, dass es eine Männer- und eine Frauenmannschaft gibt. Und in der kommenden Woche spielen 15 Männer gegen 16 Frauen.

Bisher hatten alle angenommen, dass er gar keine Familie hat. Vor ein paar Wochen hatte er meinem Mann gesagt, dass er hier bleiben wolle. Denn wenn seine Deutschlehrerin und mein Mann hier wohnen, müsse es schön sein, hier zu leben. Heute also hat er uns seine Geschichte und von seiner Familie erzählt, die er jetzt über fünf Jahre lang nicht mehr gesehen hat. Wenn man ihn ansieht verblüfft seine Fröhlichkeit. Aber offenbar ist er immer so fröhlich, stets freundlich zu jedermann. Er ist aufgeweckt und als einziger von allen Syrern im Vorder- und Hinterhaus schon da, wenn der Rest mal wieder den Unterrichtsbeginn verschläft. Dann geht er los und weckt seine Landsleute. Er will Deutsch lernen. Bald! Schnell! Denn das ist die Voraussetzung für eine Ausbildung im Kfz-Bereich. Von seinem libanesischen Arbeitgeber hatte er ein Zertifikat über seine Tätigkeit erbeten, doch der hatte nur abgewunken.

Zuletzt strahlt er uns an, bedankt sich für Tee und Kuchen und beteuert, dass er uns gern wieder einmal helfen und wiederkommen will.
Den Lohn, den mein Mann ihm auf der Rückfahrt zum Vorder- und Hinterhaus geben will, lehnt er beleidigt ab. Und wir überlegen, wie wir ihm weiterhelfen können.

second hand short story 12

Wie schon in Story Nr. 6 geht es hier um die Syrer aus dem Vorder- und dem Hinterhaus. Und um ihre Deutschlehrerin. Schon seit Monaten unterrichtet die junge Frau dort. Sie nimmt ihre Aufgabe ernst und bemüht sich sehr darum, ihnen möglichst viel zu vermitteln. Manchmal lässt sie sich auch dazu überreden, eine Stunde ausfallen zu lassen und stattdessen den Fahrdienst für die Jungs zu übernehmen. Und manchmal sitzt sie da und wartet darauf, dass überhaupt einer von ihnen zum Unterricht erscheint. Sie fühlt sich dann etwas hilflos.

Vor ein paar Tagen hat sie geweint. Es war ihr Geburtstag und sie war überwältigt von dem, was sie bei ihrer Ankunft erwartete. Alle ihre Jungs waren da, um ihr zu gratulieren. Sie alle hatten zusammen für sie gekocht und sogar noch Gäste eingeladen, die nicht zu ihren Schülern gehörten. Der Clou allerdings war die riesige Geburtstagstorte, die ihre Jungs für sie gebacken hatten. Es war ein fröhlicher Tag mit viel Musik und Tanz - und ohne Unterricht. "Noch niemals zuvor hat jemand so etwas für mich getan." Und das hat sie zu Tränen gerührt.

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second hand short story 11

Und dann war da noch der junge Syrer mit dem Diplomatenpass. Inzwischen wissen seine Betreuer, dass er gar nicht mehr so jung ist und schon mal ein paar Jahre in der Türkei gelebt hat. Er hat außerdem einen Bruder in den USA und eine Schwester in den Niederlanden. Den Deutschunterricht besucht er regelmäßig, aber es gibt Tage, da fragt er nach der nächsten UN-Niederlassung. "Warum willst Du das wissen?" "Ich will mich dort für den diplomatischen Dienst bewerben." Ach so! Vor ein paar Tagen hat er eine neue Idee. Er möchte in die Türkei reisen. "Das geht leider nicht." "Warum denn nicht?" "Dein Pass liegt bei der Ausländerbehörde und ohne Pass kannst Du nicht reisen." "Ach so!"

second hand short story 10

Dienstagnachmittag.
Eine Stunde vor Unterrichtsende, steht der große Iraker auf und sagt "ich muss jetzt gehen!" Auf die Frage, warum er den Unterricht früher verlassen will antwortet er, dass er noch zu ALDI müsse, um dort einzukaufen. "Ich kann Dich nicht festhalten", erwidert die Lehrerin, also verlässt er den Klassenraum. Und seine beiden Mitbewohner gehen gleich mit.

Mittwochnachmittag.
Ohne ein Wort zu verlieren schreibt er mit Kreide auf die Tafel an der Wand: "Von 13.00 bis 16.00 Uhr findet der Deutschunterricht statt!" Dann dreht er der Tafel den Rücken zu und sagt, "das gilt für alle! Wenn es einen wichtigen Grund gibt, Ihr einen Arzttermin habt oder zum Sozialamt müsst, seid Ihr vom Unterricht befreit. Ansonsten gilt Eure Anwesenheitspflicht von 13.00 bis 16.00 Uhr.

Und wenn Ihr Einkaufen müsst, dann steht früher auf und erledigt das am Vormittag. Oder nach der Schule. Verstanden?" Dann verlässt er die Klasse. Der große Iraker ist beleidigt.

second hand short story 9

Ich verrate jetzt nicht, wie viele Männer an diesem Tag in unserem Auto sitzen, das sie nach Oldenburg bringen soll. Sie sind froh, dass sie nicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Sozialbehörde fahren müssen und dafür machen sie sich gern klitzeklein. Sehr viele arabische und viel weniger deutsche Worte fliegen zwischen den Rückenlehnen hin und her. Es ist laut wie auf einem Marktplatz, doch das Ziel ist nah.

Die Rückfahrt nehmen später nur zwei von ihnen in Anspruch, alle anderen bleiben noch in der Stadt. "Kannst Du mich bei ALDI absetzen?" Kein Problem. Doch kaum ist er hinter der Ladentür verschwunden, jammert der letzte Passagier an Bord los. "Halt! Er hat noch mein Handy in seiner Tasche!" "Okay, aber mach schnell, wenn ich Dich noch nach Hause fahren soll." Also rennt er über den Parkplatz, verschwindet ebenfalls durch die sich öffnende Tür - und kommt nicht wieder.

Es dauert nur wenige Augenblicke, bis der Wagen geparkt ist und sein Fahrer mitten im Discounter steht. Seine Augen suchen den Laden ab und dann entdecken sie den Gesuchten, der in aller Seelenruhe das Warenangebot betrachtet.
"Wenn Du nicht in einer Sekunde hier bist, kannst Du den ganzen Weg zurück nach Hause laufen!" Wie die Kinder sind die Gören!

second hand short story 8

"Wer kann denn einen neuen Deutschkurs organisieren?" "Ich!" Und dann geht es zügig zur Sache. Zwei Deutschlehrerinnen werden engagiert, denn ein Kursus wird nicht ausreichen. Mit dem Bürgermeister und dem Direktor der Gemeindeschule ist schnell geklärt, dass nach Beendigung des normalen Schulbetriebes zwei Klassenräume zur Verfügung stehen. Plan ist, dass nicht nur die Männer, sondern unbedingt auch die Frauen Deutsch lernen sollen. Also muss gleichzeitig eine Kinderbetreuung organisiert werden, damit die Frauen auch mitkommen. Die Asylbeauftragte der Gemeinde erhält den Auftrag, neben ihren Fahrdiensten vorerst auch die Kinder unter ihre Fittiche zu nehmen. Dafür steht während des Unterrichts ihrer Eltern ein Raum in der Schule zur Verfügung, der sonst von den Kindern und Jugendlichen während der Pausen genutzt wird. Dort gibt es einen Kickertisch, ein Sofa zum Chillen, Spiele und Bücher.

Unser Auto ist streng genommen ein 7-Sitzer. Diese 7 Sitze schließen zwei Klappsitze im Kofferraum mit ein. An dem Tag, als die neuen Kurse beginnen sollen, gibt es sogar Platz für eine Fußballmannschaft. Fünf Erwachsene und sechs Kids sind auf dem Weg zur Schule. Die Kinder völlig aufgeregt und kaum zu beruhigen. Bis plötzlich Kater Garfield auf den Screens in den Rückenlehnen der Vordersitze erscheint, der gerade sein Unwesen auf dem Kika treibt. Stummes Staunen bei den Kids. Und der Fahrer ist ihr Held.

Die Trennung von Eltern und Kindern dauert länger als fünf Minuten. Doch nachdem sich alle davon überzeugen können, dass man nicht allzu weit auseinander ist, inspizieren die Kleinen neugierig den Pausenraum. Ein Riesentheater, alles wird lautstark kommentiert und aus den Fächern und Schubladen gerissen. So viel Action macht hungrig und durstig, doch kein Elternteil hat an die Versorgung der Kinder gedacht. Irgendjemand organisiert schnell etwas Saft und Kekse. Am darauffolgenden Mittag bringt ihr Held eine große Tüte in den Pausenraum und als seine Hand ein Gefügelwürstchen zutage fördert, ist die Begeisterung groß. Jeder will ein Würstchen haben. Als wenig später einer der Väter seine Kinder abholen will, blickt er entsetzt auf die leere Würstchentüte. Neben dem Schlachternamen prangen die Gesichter von zwei fetten Schweinen.

second hand short story 7

Er ist ein kräftiger Mann. Er ist laut, polternd, dominant und er redet pausenlos. Aus seinem Mund strömen lawinenartig deutsche Worte, aber niemand versteht sie. Wer ihn korrigiert, muss mit einem erneuten Schwall rechnen. Denn er weiß es besser und akzeptiert keine Kritik. Dieser Mann kommt aus dem Irak. Er gehört zu einer großen Familie und er selbst hat vier Kinder. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zuhause als Ingenieur im Bereich der Ölförderung. Seine Position war angesehen und wenn er zur Arbeit ging, trug er Anzug und Krawatte. Doch dann kidnappte ihn der IS und folterte ihn. Bis es seiner Familie gelang, ihn für sehr viel Geld frei zu kaufen.  
 
"Der große Iraker hat mich zum Abendessen eingeladen." Ein paar Tage später gibt es Salat, alle Zutaten sind fein geschnitten. Dazu Berge von Reis, der mit braunen kurzen Nudelstücken vermischt ist. Außerdem geschmortes Hackfleisch mit Zwiebeln und Tomatenscheiben in einer Sauce. Während des Essens, an dem außer dem großen Mann drei seiner Mitbewohner teilnehmen, erzählt er von seiner Familie. Daheim sitzt die Familie beim Essen auf dem Boden und kleiden sich der Bequemlichkeit halber dafür in eine Art Kaftan. In ihrer Mitte befindet sich eine große Pfanne, aus der sich alle bedienen. "Nachdem ich vom IS freigekauft worden war, feierten wir ein großes Fest und die ganze Straße nahm daran teil." Dann zeigt er stolz ein paar Fotos.

Er will wieder arbeiten, bald. Doch er weiß, dass ihn nur die deutsche Sprache seinem Ziel näher bringt. Deshalb geht ihm alles nicht schnell genug. Im Internet sieht er sich arabische Deutsch-Tutorials auf YouTube an und besteht dann im Deutschunterricht darauf, alles über den Dativ oder Akkusativ zu lernen. Seine Lehrerin, die außer ihm nur einen weiteren Iraker unterrichtet, war darauf eingegangen und hatte ihm beigebracht, was er wissen wollte. Doch nun stellt er selbst fest, dass er vieles gar nicht behalten oder bereits wieder vergessen hat. Und längst nicht so weit ist, wie er dachte. Also ließ er sich vor ein paar Tagen eine Klasse zurückstufen. Vielleicht hört er jetzt besser zu und lässt die anderen reden.

P.S. Übrigens erscheint er in einem Lodenmantel zum Unterricht. Und dazu trägt er meist eine Krawatte und einen Hut.

second hand short story 6

Sechs syrische Männer wohnen im Vorderhaus. Sie sind Sunniten oder Aleviten. Zehn syrische Männer wohnen im Hinterhaus. Sie sind Sunniten. Unter ihnen gibt es Liberale und Radikale und nicht immer können sie sich leiden. Das ist in ihrer Heimat so und so ist es auch hier. Am besten ist es, man geht sich aus dem Weg. Vorsichtshalber. Zwei ehrenamtlich tätige Frauen aus unserer Gemeinde unterrichten die Männer in Deutsch. Die eine im Vorderhaus, die andere im Hinterhaus. Mal kommen die Bewohner zum Unterricht, mal kommen sie nicht. Die beiden Frauen sind froh, dass sich (m)ein Mann regelmäßig in beiden Häusern zeigt. Denn vor Männern haben die Syrer einfach mehr Respekt. Sie, die am liebsten jeden Tag bis in die Puppen schlafen, lassen sich seinen Klopfruf vor ihren Zimmertüren gefallen. "Aufstehen! Ihr habt Deutschunterricht!" Hin und wieder hilft solch ein Morgenappell, auch wenn er sich keiner Beliebthait erfreut. Also trudeln sie ein, die einen im Vorder- und die anderen im Hinterhaus. Langsam, denn es ist ja noch früh. Sie kochen erst einmal Tee, plappern englisch und arabisch durcheinander. Begleitet vom allgegenwärtigen arabischen TV-Sender. Es dauert eine Weile, bis Ruhe einkehrt und die beiden Frauen die nötige Aufmerksamkeit erhalten.

Zunächst hatten sie - sowohl im Vorder- als auch im Hinterhaus - alle um einen Tisch in der Mitte des Raumes gesessen. Die Lehrerin hatte deutsche Buchstaben und Worte auf weißes Papier geschrieben und sie schrieben dann ab. Eine mühsame Methode, bei der nicht jeder alles sehen konnte. Doch an einem Tag war ihr "Wecker" noch ein wenig länger geblieben und hatte in jedem Haus große Whiteboards an die Wände geschraubt. Jetzt war es wie in jedem gewöhnlichen Klassenzimmer. Die Frauen malten mit Schwung große Worte auf die Tafeln und die Schüler schrieben mit.

Im Spätsommer vergangenen Jahres brachte die Regierung ein Bildungsprogramm für all jene auf den Weg, die mit ihrer Anerkennung rechnen dürfen. Infolgedessen übernahm fortan die Volkshochschule als Träger die Kosten für einen Deutschkurs und stellte eine Lehrerin ein. Voraussetzung dafür war, dass alle Bewohner des Vorder- und Hinterhauses an einem Kurs teilnehmen, und zwar unter einem Dach! Nach der Devise "no German, no future" startet also nun der Unterricht täglich pünktlich um 11 Uhr. Das klappt nicht immer, aber im Durchschnitt nehmen inzwischen immerhin zehn Schüler teil. Eine gemischte Gruppe aus dem Vorder- und dem Hinterhaus. Sie trödeln morgens noch immer herum und kochen erst einmal Tee. Und wenn Assad mal wieder eine Stadt bombadiert hat, geraten sie sich schon mal in die Haare. Damit solche Auseinandersetzungen unterbleiben, bleibt der Fernseher während des Unterrichts aus. Sie lernen nun gemeinsam Deutsch. Und dass sie auch mal die Zähne zusammenbeißen müssen, weil es ohne Frieden keinen Unterricht gibt.

second hand short story 5

Zusammen mit unseren jungen, syrischen Freunden gab es eine Reihe von Wohnungsbesichtigungen. Eine davon fand in Oldenburg in Holstein statt. Der Kontakt zur Vermieterin, einer Psychologin, war durch ein ehrenamtliches Mitglied unserer Gemeinde zustande gekommen. Die Wohnung befand sich sehr zentral in dem Haus, in dem diese ihre Praxis unterhielt. Und sie war räumlich und preislich perfekt für zwei Personen. Noch war unser Schützling, der gerade ein Praktikum als Französischlehrer an der Gemeindeschule erhalten hatte, noch alleine. Aber er wartete sehnsüchtig darauf, dass seine Frau aus Syrien nachkommen würde. Er erhielt den Zuschlag, so dass nun für die Anmietung der Wohnung alles in die Wege geleitet werden konnte, was in einem solchen Fall behördlicherseits erforderlich war.
Das schriftliche Mietangebot wurde also beim zuständigen Sozialamt in Oldenburg eingereicht. Das Amt sah sich jedoch aufgrund eines fehlenden Passes außer Stande, eine Zusage hinsichtlich der Mietübernahme zu erteilen. Größe und Mietpreis entsprachen zwar den vom Gesetzgeber festgelegten Anforderungen, aber: der Pass musste her. Die Rückfrage beim BAMF in Berlin ergab, dass sich der Pass "in der Zustellung" befinde. Inzwischen wissen wir, dass diese Zustellung 4-6 Wochen dauern kann. Doch die Zeit drängte, denn die Wohnungseigentümerin wollte schnellstmöglich vermieten. Hilfe musste her und so landete mein Mann bei einer sehr aufgeschlossenen und flexiblen Mitarbeiterin des Ausländeramtes in Eutin. Sie hörte sich den Sachverhalt an und versprach, "ich werde mir etwas einfallen lassen." Ein paar Tage später erhielt das Sozialamt ein Schreiben der Behörde in Eutin. Und unser Schützling die Zusage, dass das Sozialamt "bis zum Eintreffen seines Passes die Mietzahlung übernehmen werde." Feude war zu diesem Zeitpunkt noch nicht angebracht, denn die Kaution wollte das Sozialamt auf gar keinen Fall übernehmen. Was nun? Wiederum wurde die überaus freundliche Mitarbeiterin der Ausländerbehörde in Eutin bemüht und tatsächlich hatte sie schon bald eine Lösung parat. "Ich habe mit dem DRK Eutin gesprochen und sie übernehmen die Kaution." Nach so vielen Telefonaten, E-Mails und persönlichen Gesprächen entschädigte das Ergebnis für jede Mühe. Alle waren glücklich, besonders mein Mann, der die erfreuliche Nachricht sofort an die Vermieterin weiterleitete:

Liebe Frau xxx,
ich habe fast selbst nicht mehr daran geglaubt aber es ist vollbracht. Das Sozialamt übernimmt die Miete (siehe unten) und das DRK Eutin übernimmt die Kaution (Bestätigung kommt sofort).
Herzliche Grüße

Guten Abend,  
na, da haben Sie ja ordentlich etwas erreicht ;) leider fehlen in den Bestätigungen, die ja auch nicht unterschrieben sind, die Beträge und die Direktzahlungserklärung. Was passiert, wenn der Reiseausweis da ist? Ich kenne das vom Jobcenter anders. Konnten Sie etwas hinsichtlich der Waschmaschine klären, wir müßten sie dann ja ggf. raus nehmen? Morgen werde ich wohl Gelegenheit haben, es mit meinem Mann noch mal zu besprechen. Er kommt heute Nacht wieder.
Liebe Grüße
xxx

Guten Morgen Frau xxx,
die Bestätigungen basieren natürlich auf Ihrem Mietangebot, welches dem Sozialamt und dem DRK vorliegt. Die Spielregeln bezüglich der Direktzahlung haben sich geändert. Die Gelder werden insgesamt ausgezahlt und die Miete muß vom Mieter dann an Sie überwiesen werden.
Wenn Sie mir Ihre Kontoverbindung nennen und der Mietvertrag vorliegt wird die Kaution sofort vom DRK an Sie überwiesen.
Die Waschmaschine wird leider nicht übernommen. Wenn Herr xxx seine Papiere aus Berlin bekommen hat, wird er sozusagen vom Sozialamt an das Jobcenter abgegeben und die übernehmen dann die weiteren Zahlungen.
Liebe Grüße

Guten Tag,
so, nun haben wir uns  besprochen. Das ist uns alles zu vage, außerdem gibt es dann noch eine Ungewissheit beim Übergang von Sozialamt zu Jobcenter. Wir sehen daher von der Vermietung an Herrn xxx ab. Es tut uns leid, Ihnen keine andere Mitteilung machen zu können. Wir müssen uns nun auch neu orientieren, weil wir schon allen anderen Interessenten abgesagt hatten. Aber so ist es nun mal..........
Liebe Grüße
xxx

Guten Tag Frau xxx,
ich möchte hier nicht niederschreiben was ich gerade von Ihnen halte. Es ist schon ein starkes Stück was Sie sich da leisten.
Alle Beteiligten haben sich mehr als intensiv um eine Lösung des Problems bemüht und ja letztlich auch eine gefunden.
Unfassbar!!!
Hochachtungsvoll

second hand short story 4

Und dann war da noch der junge Syrer, der bei seiner Ankunft in unserer Gemeinde seinen Diplomatenpass vorzeigte und ein Einzelzimmer verlangte. Er wurde bei ein paar seiner Landleute einquartiert, die in einem von der Gemeinde angemieteten Backsteinbau wohnen. Also fragte er, in welchem Jobcenter er sich denn um die Stellung als Diplomat bewerben könne? Niemand weiß, welche Tätigkeit er in Syrien tatsächlich ausgeübt hat, denn außer Arabisch spricht er keine weitere Sprache. Aber da er seit einer Weile jeden Tag pünktlich zum Deutschunterricht erscheint, kommt er seinem Wunsch langsam aber sicher immer näher.

second hand short story 3

"Der Gemeinde wurde mitgeteilt, dass vier weitere Personen ankommen würden. Was niemand wusste ist, eine der beiden Frauen ist hochschwanger." Kurz darauf wollten sich mein Mann und eine Mitstreiterin davon überzeugen, dass die Paare gut untergebracht worden waren. Auch wenn sie nur für anderthalb Wochen dort bleiben sollten. Der Wohnung war anzusehen, dass sie nur eine Übergangslösung sein konnte, denn sie war etwas heruntergekommen, kalt und ungemütlich. In einem der kleinen Zimmer qualmte es heftig aus dem dort vorhandenen Kohleofen und die junge Schwangere saß dort, in mehrere Schichten Kleider gehüllt, und ertrug den Rauch des Ofens und den der Zigaretten, die ihr Mann unermütlich rauchte. "Ich hätte Dich schon fast angerufen um zu fragen, ob die beiden zu uns ziehen können?" Doch nach ein paar Telefonaten hatte seine Kollegin eine Freundin davon überzeugen können, dem Paar ihre Ferienwohnung zu vermieten. "Nur für etwas mehr als eine Woche. Dann ziehen sie in die für sie bestimmte Wohnung ein, die derzeit noch renoviert wird." Glücklich über das erfreuliche Ergebnis ihrer Bemühungen wurden die wenigen Habseligkeiten des Paares in unser Auto geladen und schon nach wenigen Minuten standen alle vor dem hübschen Fachwerkhaus. Die Wohnung war hell, freundlich eingerichtet und vor allen Dingen warm. Doch das Paar wollte dort nicht bleiben. "Warum denn nicht? Hier habt Ihr es doch viel besser." "Nein, nein." Der Mann und seine junge schwangere Frau wollten zurück in die Wohnung mit dem stinkenden Ofen. Der Grund: "Hier gibt es keine Waschmaschine."

short story 2

Es sprudelt aus ihm heraus. Deutschunterricht. Von morgens um 9 Uhr bis zum Mittag war er im Rathaus gewesen. Ein ehemaliger Lehrer unterrichtet dort. Eigentlich sollten mindestens 10 Schüler anwesend sein, aber an diesem Tag waren fünf Männer und eine Frau erschienen. "Und was sind das für Menschen?" "Ich glaube, sie kommen alle aus Syrien. Es gibt Handwerker, aber auch Universitätsabsolventen. Und was die Frau gemacht hat, weiß ich noch nicht." Und dann erzählt er von dem  jungen Mann, der sich gleich an seine Seite gesetzt und ihn angestrahlt hatte. "Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist er Dachdecker von Beruf. Während die anderen Schüler mitschreiben, was ihr Lehrer an die Tafel malt, fotografiert er jedes geschriebene Wort mit seinem Handy." Schon sehr bald stellt sich heraus, dass der freundliche junge Dachdecker gar nicht schreiben kann, also auch nicht Arabisch. "Gehst Du morgen wieder hin?" "Auf jeden Fall."
Auch an den folgenden drei Tagen ist festzustellen, dass längst nicht jeder auf der Liste zum Deutschunterricht erscheint. Regelmäßig kommen nur die, die wirklich lernen wollen. Allerdings ist ihr Bildungsniveau auf einer Skala von 1 bis 10 mit 1 bis 10 zu bewerten. Da ist der Dachdecker, der das deutsche ABC lernen soll, obwohl er gar nicht schreiben kann und andere, mit denen man Englisch spricht, teilweise fließend. Abgesehen davon haben alle eines gemeinsam: Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind Fremdworte, auch in ihrer Sprache. Aber drei der jungen Syrer machen deutlich, dass sie schneller weiterkommen wollten. Der Französischlehrer, der Informatiker und der jüngere Bruder des Letztgenannten. Seit über vier bzw. zwei Monaten leben sie in der Gemeinde und sie sind ungeduldig, weil es Mitschüler gibt, die das Tempo im Unterricht immer wieder drosselen. Ihnen ist bewusst, so kommen sie nicht weiter. "Kannst Du uns unterrichten?" Die Antwort lautet, ja. Und von diesem Tag an findet der Unterricht für diese Jungs an fünf Tagen die Woche in deren Wohnung statt. Erlaubt sind ausschließlich Deutsch und Arabisch. Englisch ist verboten.

 second hand short story 1

Auch wir gehören zu denen, die helfen wollen. Im vergangenen Sommer, als immer mehr Menschen Schutz suchend in unsere Republik kamen. Wie viele andere auch, packen wir nach einem Aufruf des Hamburger Abendblatts eine große Reisetasche voll mit Dingen, die dringend benötigt wurden. Am nächsten Morgen schleppe ich die Tasche zum Verlag und bin überwältigt von der tausendfachen Resonanz auf diese Aktion. Vielleicht setzt sie unsere Überlegung in Gang, mehr tun zu müssen. Die täglich auf uns einströmenden Berichte bestärken uns, allerdings haben wir noch keine konkrete Vorstellung davon, wie unsere Hilfe aussehen soll? "Ich rufe morgen bei der Gemeinde an." Am nächsten Tag höre ich das Ergebnis am Telefon. "Die Asylbeauftragte war hier und hat die Räumlichkeiten begutachtet. Sie ist einverstanden, dass wir jemanden aufnehmen." Das ging mir zu schnell.

Die Fahrt nach Hause ist - wie jeden Tag - 120 km lang. Ausreichend Zeit, um sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Zuhause öffnen wir eine Flasche Wein und diskutieren. Wollen wir einen Menschen bei uns aufnehmen? Einen Mann? Eine Frau? Ein Kind oder einen Jugendlichen? Wie würde das funktionieren, wenn ich doch den ganzen Tag in Hamburg war? Und wenn derjenige Angst vor Hunden hat? Oder Angst, alleine im Haus zu bleiben? Sollen er oder sie immer mitkommen, wenn es zum Pferd, zur Bank, zum Einkaufen geht? Was, wenn es demjenigen bei uns nicht gefällt? Ist unsere Vorstellung zu romantisch? Wir können doch schlecht jemanden zu uns nehmen wenn wir vielleicht nach kurzer Zeit sagen müssen, es klappt nicht. Du musst wieder gehn. Das wäre absolut unverantwortlich. Wir können unsere Freunde nicht mehr über Nacht einladen, weil das Gästezimmer belegt ist. Wie lange denn wohl? Ein paar Tage, Wochen oder Monate? Diese Frage hat auch die Asylbeauftragte unserer Gemeinde nicht beantworten können. Die Flasche Wein ist leer und wir stellen Angst vor der eigenen Courage fest. "Aber vielleicht können wir eine Patenschaft übernehmen?"

Am nächsten Morgen fahren wir bereits sehr früh zum Rathaus und sitzen wenig später unserer Ansprechpartnerin in ihrem winzig kleinen, mit Akten vollgestopften Zimmer gegenüber. Wir erzählen ihr von unserem Gespräch und zu welchem Ergebnis wir gekommen sind. Sie versteht uns. Schließlich kümmert sie sich jeden Tag von morgens bis abends um diese Menschen und niemand hat gesagt, dass das leicht sein wird. "Gibt es die Möglichkeit eine Patenschaft zu übernehmen?" Die gibt es und ihr Rat lautet, dass mein Mann sich erst einmal einen Eindruck von denen machen soll, um die es geht. Nämlich Syrer, Afghanen, Eritreer, Iraker und Menschen aus dem Kosovo. Meist junge Männer, aber auch Frauen und Kinder. "Jeden Morgen um 9.00 Uhr geben Ehrenamtliche hier im Rathaus Deutschunterricht. Schauen Sie sich das doch mal an." Der Tag darauf wird sein Leben verändern.second hand

Last modified on Sunday, 10 April 2016 16:31
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