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Mein Wort Reich

"Nicht Worte sollen wir lesen, sondern den Menschen, den wir hinter den Worten fühlen." ( Samuel Butler)

 

 

Wenn ich etwas erlebt habe, dann erzähle ich es gern weiter. Weil es dann immer wieder lebendig wird und ich das Erlebte mit anderen Menschen teilen kann. Oder aber ich schreibe es auf. In diesem Fall geht es in erster Linie um das, was mein Mann seit ein paar Monaten erlebt. Denn bei all den Geschichten die er mir erzählt denke ich, das sollte er auch anderen erzählen. Jemand sollte sie aufschreiben, weil sie sonst verloren gehn. Dieser Jemand bin also nun ich. Ich schreibe hier all das auf, an das ich mich erinnere. Denn inzwischen sind es schon eine ganze Reihe von Geschichten - second hand short stories.

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Es ist schon stockfinster, als unser Auto am ersten Weihnachtsabend auf den Hof vor unserem Haus fährt. Sie sind da! Ich rufe die Hunde zu mir und überreiche den Gumminasen Weihnachtspräsente. Die großen Kauknochen ersetzen heute die abendliche Futterration. Außerdem lenken sie von unseren Besuchern ab, die gerade zur Haustür hereinwehen. Hallo! Frohe Weihnachten! Herzlich Willkommen! Da stehen die drei Jungs und strahlen. Keine Sorge, die Hunde sind beschäftigt. Durch die zum Hundezimmer geöffnete Tür können die drei sehen, dass sich Buster, Boomer und Sunny voller Inbrunst ihren Geschenken widmen. Das Weihnachtsgeschenk für die jungen Syrer bruzelt hinter dem beleuchteten Backofenfenster seiner Vollendung entgegen und in allen Räumen strahlen die brennende Kerzen mit dem festlich geschmückten Baum um die Wette.

Prosecco? Ist das weißer Wein? Ja, mit Kohlensäure. Kohlensäure? Englisch ist auch heute Abend tabu, so wie sonst auch. Wir sprechen Deutsch, aber auch heute helfen sie sich gegenseitig in ihrer Muttersprache. Ah! Kohlensäure! Prost! Jetzt die Bescherung, schließlich ist Weihnachten. Bescherung? Selbst die geniale Arabisch-Deutsch-App, die sowohl die jungen Männer, als auch mein Mann auf ihren Handys installiert haben, hat keine Antwort darauf. Aber Geschenke, dieses Wort kennen sie. Ihr müsst sie anprobieren, wenn sie nicht passen, müssen wir sie umtauschen. Die Winterstiefel passen, prima. In diesem Jahr hatten wir Glück mit dem Wetter, denn bei den milden Temperaturen hat niemand warme Schuhe vermisst. Aber die Kälte und der Schnee kommen gewiss. Für unsere Gäste hat Weihnachten keine tiefere Bedeutung. Aber als ich 10 Jahre alt war, freut sich A., ist der Weihnachtsmann gekommen und hat mir ein Auto geschenkt. Gerade richte ich die Vorspeise an. Marinierte Rote Bete und Ziegenfrischkäse mit karamellisierten Walnüssen weil ich weiß, dass auch in Syrien Rote Bete gegessen wird. Bei Tisch bestätigt L. das und meint, dass sie sehr gesund sei. A. überlegt noch, welches Besteck er wählen soll und wir geben eine Empfehlung ab. Normalerweise benutzen sie ihre Hände, die mit Fladenbrot oder Brotstücken jede Speise überaus geschickt in den Mund befördern. Oder es kommt ein Löffel zum Einsatz. Wir diskutieren lange und lachend darüber, wie das wohl mit einem Steak funktioniert? Während mein Mann die Gans zerlegt, trage ich die Beilagen auf und erkläre, was sich in den Schüsseln befindet. Rotkohl, den gibt es in Syrien auch. Die Jungs nicken. Dann die Füllung. Das hier befand sich im Bauch der Gans. A. fragt nach, ob die Füllung aus Innereien besteht? Sie essen gern Innereien. Nicht nur. Außer Herz und Leber der Gans enthält sie Brot, Ei, Nüsse, Pflaumen, Äpfel und Gewürze. Semmelknödel, sehr deutsch. Alle lachen und lassen sich kurz darauf die Gänseteile und Beilagen schmecken. Inzwischen liegen Buster, Boomer und Sunny um uns herum. Sie schlafen, schnarchen, fühlen sich in unserer Gesellschaft wohl. Die Jungs sind entspannt und hin und wieder fährt eine Hand streichelnd über das Fell der Hunde.

Der jüngere Bruder von A. soll uns erzählen, was er heute gemacht hat. Ay. kennt unglaublich viele Worte und für uns setzt er sie zu kleinen Geschichten zusammen. Alle hören zu, fragen nach, korrigieren freundlich, helfen mit Worten aus. So dauert eine kleine Geschichte oft so lange wie eine lange Geschichte. Und Ay. ist keineswegs gekränkt, dass wir alle unseren Spaß daran haben. Wenn ihm gerade ein Wort nicht einfällt, sagt er "Moment". In diesem Moment lachen alle. L. macht an der Schule gerade ein Praktikum als Lehrer. Die Schüler und auch die verantwortliche Lehrerin sind sehr nett. Sie helfen ihm, wenn sein Deutsch nicht ausreicht. Und er hilft ihnen, ihr Französisch zu verbessern. Dann erzählt L. von seiner Frau. Sie ist noch in Syrien und hat erst im nächsten Oktober einen Termin bei der deutschen Botschaft in Beirut. Vielleicht besteht ja die Möglichkeit, einen früheren Termin zu bekommen. Er ist zuversichtlich. Das Gespräch wird immer lebhafter, Deutsch, Arabisch, ist doch egal. Zeit für das Dessert. Bratäpfel mit Vanillesauce. Ah! Bratäpfel, sehr deutsch. Alle lachen.

Die Jungs gehören zu den Drusen, einer religiösen Minderheit im Nahen Osten. Sie gelten für alle Richtungen des Islam als Nichtmuslime, da sie den Propheten Mohammed ablehnen. Ihr Glaube steht in eklatantem Widerspruch zum muslimischen Dogma und auch der Koran ist für sie keine Offenbarung. Sie glauben an die Seelenwanderung. Deshalb ist es auch unmöglich, zum Drusentum zu konvertieren, denn eine drusische Seele wird immer wieder in einem neuen drusischen Körper geboren. A. betont, dass seine Religion die Menschlickeit sei.

Wir haben an diesem Abend wieder einmal viel gelernt. Tschüss Jungs, schön dass Ihr Weihnachten mit uns verbracht habt.

P.S. Die drei leben schon seit vielen Monaten in einer schleswig-holsteinischen Kleinstadt. Sie lernen täglich Deutsch, sind inzwischen anerkannt, A. besitzt schon einen Pass, während L. und Ay. noch darauf warten. Das Warten auf all die Dinge, die ihnen ein Weiterkommen und ihre Integration ermöglichen ist es, was sie mürbe macht. Es geht ihnen gut hier und das wissen sie auch. Und sie üben sich in Geduld. Auch wenn es schwer fällt.
P.P.S. Das Bild habe ich nicht gezeichnet, sondern ihr Foto lediglich verfremdet.

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Vor einigen Monaten schenkte mir die Freundin einer Freundin einen riesigen Stapel Wohnzeitschriften. 'Living at home'-Ausgaben der vergangenen 10 Jahre. Was für ein Geschenk! Ich bin ein Wohnzeitschriftenmaniac und kenne sehr viele. Doch dieses Magazin hatte ich - wahrscheinlich nach einem der vielen Chefredakteurwechsel - aus den Augen verloren. Ich fuhr also zu ihr, wir packten den Kofferraum meines Minis voll und dann fuhr ich glücklich mit meiner Beute nach Hause. Seitdem greife ich mir aus jeweils dem Monat, in dem ich mich gerade befinde, alle früheren Ausgaben. Und wenn ich Glück habe, dann ist so ein März oder September bis zu 10 x mit dabei.

Heute blättere ich in der Novemberausgabe aus dem Jahre 2008 und finde zwischen dem Artikel "Gans vollendet genießen" und dem Beitrag "Geniales Rollenspiel" (ein Rouladenrezept.) eine klitzekleine Überraschung.

wunschzettel

An der umgeknickten Ecke eines Streifens Tesafilm klebt ein Briefumschlag aus weißem Papier. Nicht sehr groß, etwa im Format einer Visitenkarte. Zahlen scheinen hindurch, vielleicht ein zum Kuvert gefalteter Kassenzettel? Der Brief ist ringsherum mit Tesafilm zugeklebt, doch durch einen kleinen Schlitz kann ich sehen, dass sich in seinem Innern etwas Rotes befindet. Ich öffne ihn nicht, schließlich ist er nicht an mich addressiert. Sondern an Thomas, Weihnachtsmann. Und die Absenderangabe lautet: Wichtel Richard.

Ich beschrifte eine Karte mit ein paar erklärenden Zeilen, schreibe die Adresse der Wichtel-Mutter auf ein frankiertes Kuvert und stecke Karte und die Post von damals hinein. Ob sie sich freuen werden?

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Schon am frühen Morgen höre ich Radio. Erst im Bad, wenig später dann im Auto auf der Fahrt nach Hamburg. Welche Musik? Schon sehr lange fast gar keine mehr. Ich höre Deutschlandfunk, da machen sich Melodien rar und stattdessen Worte breit. In Nachrichten, Pressestimmen, Kommentaren, Korrespondentenstimmen und Interviews. Im Zentrum all dieser Beiträge stehen die Flüchtlinge. Ich erfahre viel, von dem ich keine Ahnung hatte. Erhalte Bestätigung dessen, was man sich überall erzählt. Ich höre Geschichten, die mich oft fassungslos, nachdenklich und zornig machen. Und manchmal rühren sie mich zu Tränen.

Ich habe zum Thema Flüchtlinge eine Meinung. Diese Meinung muss und will ich mit niemandem diskutieren. In meinem direkten Umfeld gibt es viele unterschiedliche Menschen und jeder von ihnen denkt in dieser Sache anders. Das ist völlig in Ordnung, weil sie ganz eigene Beweggründe haben, auf denen ihre Haltung basiert. Ich denke, das sollte jeder akzeptieren und nicht permanent dagegen anreden. Andere denken nicht so. Sie wollen die Diskussion. Und auch das ist ihr gutes Recht.

Doch warum benutzen sie oftmals eine so unglaublich rohe, gewalttätige, brutale, erbarmungslose, kalte und gnadenlose Sprache? Das macht mich krank! Und ich empfinde sie als gefährlich. Warum kann sich ein Mensch, der seine Meinung kund tun möchte, nicht normaler Worte bedienen? Es ist keine Frage der Bildung, was so manches Politikerwort beweist. Aber was ist es dann? Und selbst diejenigen, die sich nicht artikulieren können aber wollen, posten Fotos von Stimmung machenden Artikeln oder plakative Hetzparolen. Das ist unerträglich.

Natürlich haben wir ein Problem. Und die Ursachen, die dazu geführt haben, sind hinlänglich bekannt. Doch ebenso klar ist auch, dass es sich durch lautstarkes Pöbeln nicht in Luft auflösen wird. Das große Ganze können wir vielleicht nicht ändern. Aber im Kleinen kann es jeder von uns versuchen. Beginnen wir mit den Worten, die wir wählen.

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